Für jeden Coronatoten fällt ein Nagel in eine Schale

23.03.2021 | In nächtlicher Liturgie erinnern Marios Pergialis und Sebastian Schmid an Leid und Schmerz

In Deutschland sind bisher fast 75 000 Menschen an und mit Covid 19 verstorben. Theologe Sebastian Schmid sowie Künstler und Jugendreferent Marios Pergialis erinnern in einer liturgischen Performance an jede und jeden Einzelnen von ihnen. In der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag lassen sie in der Kirche St. Maria für jede*n Verstorbene*n einen Nagel in eine große Metallschale fallen. Jeder Nagel erzeugt dabei einen Ton, der als „Ruf“ zu verstehen ist: als fragender, klagender und anklagender Ruf, aber auch als Nachruf und Hilferuf. „Wir tragen damit jeden Menschen noch einmal vor Gott und in unser Bewusstsein“, sagt Sebastian Schmid. Der erste Nagel wird um 20 Uhr am Gründonnerstag fallen, der letzte in den Morgenstunden am Karfreitag. Die Kirche wird von 20 bis 23 Uhr sowie von 5 bis 8 Uhr für Menschen geöffnet sein, die bei dieser besonderen Liturgie dabei sein möchten.

 

Auf Worte werden Marios Pergialis und Sebastian Schmid weitgehend verzichten. Sie beginnen Gründonnerstagabend mit dem Kreuzzeichen und enden Karfreitag morgens mit dem Kreuzzeichen. In den zwölf Stunden dazwischen lassen sie einen Nagel nach dem anderen in die Schale fallen. In der leer geräumten Kirche wird sich der Ton der nacheinander aufschlagenden Nägel im Lauf der Nacht verändern. „Wir legen jeden Menschen in Gottes Hände. Jeder Ton, der dabei entsteht, ist aber auch ein Schmerzton, der die Frage aufwirft, wie ein Gott existieren kann, der eine solche Pandemie zulässt“, sagt Sebastian Schmid. Für Marios Pergialis ist jeder Ruf „zugleich Klage an Gott als auch Zuspruch, dass wir als Kirche den Opfern gedenken.“ „Ruf“ ist deshalb auch der Titel der liturgischen Performance.

Pergialis und Schmid werden sich voraussichtlich alle drei Stunden abwechseln, der jeweils andere ist dann für Gespräche, Nachfragen, Reaktionen in der Kirche anzutreffen. „Wir wissen nicht, was das pausenlose Fallenlassen der Nägel, das Wissen um die vielen tausend Verstorbenen und die Symbolik mit uns machen wird“, stellt der Künstler und Pastoralreferent Sebastian Schmid fest. Am Ende der Nacht werden mehr als 200 Kilogramm Nägel in der Schale liegen, die sich dann gar nicht mehr von zwei Menschen anheben und wegtragen lässt. An theologischer Symbolik ist vieles zu finden: Die Nägel erinnern an die Nägel am Kreuz Jesu, die Schale an die Wasserschale, mit der Jesus den Jüngern beim letzten Abendmahl die Füße gewaschen hat, sie erinnert aber auch an die Schale der bevorstehenden Osterfeuer.

Gründonnerstag ist die Nacht vor Jesu Tod, in der er in Einsamkeit und Angst betete und anschließend gefangen genommen wurde. Deshalb wird die Marienkirche während der Nacht für einige Stunden für Besucher geschlossen, um gerade auch an die Menschen zu erinnern, die alleine gestorben sind. Von 20 bis 23 Uhr sowie von 5 bis 8 Uhr besteht die Möglichkeit, an der liturgischen Performance zum Gedenken der Coronatoten in St. Maria in der Tübinger Straße teilzunehmen, in den Stunden dazwischen fallen die Nägel in der leeren Marienkirche. Während der Öffnungszeiten besteht Maskenpflicht und die Besucherinnen und Besucher müssen beim Betreten der Kirche ihre Kontaktdaten hinterlassen.

Für den Kunsttherapeuten und katholischen Dekanatsjugendreferenten Marios Pergialis ist die nächtliche liturgische Performance eine Fortsetzung des Gedenkprojekts „DE_SARS_CoV2“, das bis Dezember im Heilig-Kreuz-Münster in Schwäbisch Gmünd zu sehen war. Am Volkstrauertag 2020 hat Pergialis zusammen mit Anthony Di Paola Nägel in Holzwürfel geschlagen, sie aufgestellt und mit den Holzteilen auch die Worte „Fürchtet euch nicht“ gestaltet. Zu diesem Zeitpunkt waren 12.692 Frauen und Männer an Covid-19 verstorben. Für Marios Pergialis ist die liturgische Performance eine Weiterführung des ursprünglichen Gedankens: Die Menschen aus dem Vergessen zu holen und die schiere Zahl erlebbar und erfahrbar zu machen. Marios Pergialis geht es auch darum, die Einsamkeit sichtbar zu machen, der viele Menschen aufgrund der Pandemie am Lebensende ausgesetzt sind: „In der Nacht wird die Einsamkeit der Menschen zu spüren sein, zugleich wird aber auch deutlich, dass sie ihren Platz finden.“